Anna Zakel

 

Vor meiner Großtante Anna hatte ich als Kind Angst. Trotz ihrer fröhlichen Art wirkte sie auf mich irgendwie sonderbar, verschroben und vor allem viel zu klein. Ich wusste, dass sie auf dem Dorf wohnte und malte mir in meiner Fantasie aus, wie sie abgeschieden am Rande des Waldes lebte – etwa so, wie die Hexen in Grimms Märchen.

Viele Jahre später, als ich mit meiner Familie schon längst in Deutschland lebte, besuchte ich sie auf dem Dorf und fand dort zu meiner Überraschung keine heruntergekommene Hütte vor. Die Frau, die ich als Kind für eine Hexe hielt, bewirtschaftete einen großen Hof, hatte einen wunderschönen Blumengarten, las den Kanon der deutschen Literatur und verstand es mit ihrer herzlichen Art, einem Gast augenblicklich das Gefühl zu geben, willkommen zu sein.

Ich sah die innige Beziehung, die mein Vater und sie zueinander hatten, wusste von ihren zahlreichen Geschwistern, die allesamt weggezogen oder – wie mein Großvater – bereits verstorben waren, und fragte mich, was für ein Leben sie wohl geführt haben mochte. Ganz alleine, ohne Familie, auf einem abgelegenen Dorf in Rumänien.

Ich fand die Antwort, als ich sie viele Jahre später wiedersah. Damals hatte ich mich schon intensiv mit meinen siebenbürgisch-sächsischen Wurzeln auseinandergesetzt. So fiel es mir leichter zu verstehen, in welche Zeit meine Großtante Anna hineingeboren wurde und warum sie so sehr an ihrem Häuschen in Abtsdorf, das sie liebevoll „Appesstref“ nannte, hing. Es war ihr Gefühl für Heimat, ihr Sinn für die Pflege der siebenbürgisch-sächsischen Traditionen, die sie von klein auf verinnerlicht und die sie mit so großer Freude ausgelebt hatte. Sie kannte die Zeiten, in denen die siebenbürgisch-sächsischen Dörfer voller Leben waren, geprägt von Tanz- und Musikabenden, von ausgelassenen Kronfesten, von Spinnstuben mit den Freundinnen, von der nachbarschaftlicher Hilfe, wenn es dem anderen schlecht ging. Sie kannte all das, was den Gemeinschaftssinn und das soziale Miteinander der siebenbürgisch-sächsischen Volksgruppe in Rumänien über Jahrhundert hinweg ausmachte.

Als ich meine Grosstante zum letzten Mal sah, eine 98-jährige, zerbrechliche Frau, die schon längst in ihrer eigenen Welt lebte und kaum jemanden erkannte, schaute sie mir tief in die Augen und lächelte. Dieser Blick, der mich auch seither nicht mehr losgelassen hat, drückte so viel mehr aus, als was Worte zu sagen vermögen. Etwas verband uns in diesem Moment, etwas das bis heute anhält und vielleicht den Ausschlag für dieses Projekt gegeben hat.

Kurz darauf, nach ihrem Tod, begann ich damit, mich mit ihrem Leben auseinanderzusetzten und ich entdeckte die Geschichte einer starken und mutigen Frau.

Mitten im Ersten Weltkrieg, am 26. Mai 1916 wurde Anna Zakel als siebtes von acht Kindern geboren. Wahrscheinlich war sie schon von klein auf anders als die anderen Kinder, aufgeweckter und ungestümer. Sie ritt auf Pferden, obwohl sich das für Mädchen damals nicht gehörte. Und sie ließ sich das auch von niemandem ausreden. Auch ihrem Dorflehrer fielen die Wissbegierde, Intelligenz und der starke Wille schon früh auf. Sie wusste, was sie wollte. Und sie wusste, was sie nicht wollte.

Wie damals üblich hätte Anna als junge Frau auch eine traditionelle siebenbürgisch-sächsische Hochzeit feiern sollen. So wie es jahrhundertelang Tradition war – mit einer großen Feier, selbstgemachtem Hanklich und dem abschließenden „Ausgrüßen“ aus der Schwesternschaft. Doch dazu kam es nie, obwohl Annas Eltern zweimal eine Hochzeit vorbereitet hatten. Beide Male mussten Annas Brüder, darunter auch mein Großvater, die Hochzeit tags zuvor absagen. Anna drohte damit, sich das Leben zu nehmen, wenn sie zur Ehe mit einem Mann gezwungen würde, den sie nicht liebte. Denn seit ihrer frühen Jugend liebte sie Ernst, den Sohn des Dorfpfarrers. Warum die beiden nicht heiraten konnten oder durften, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass sie ihren Ernst viele Jahre hinweg in ihrem Herzen trug und ihn nie vergessen hat.

Hier hatte ich also die Antwort auf meine Frage, warum sie keine eigene Familie gegründet hatte – obwohl sie Kinder, vor allem ihre zahlreichen Nichten und Neffen, so sehr liebte. Meine Großtante Anna hatte entgegen aller Konventionen und Normen ihrer Zeit – und entgegen der alt-tradierten Sitten der Siebenbürger Sachsen beschlossen, lieber alleine zu bleiben als jemanden zu heiraten, den sie nicht liebte.

Leicht hatte sie es während ihres gesamten Lebens nicht. Mit 29 Jahren wurde sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit in Rumänien von sowjetischen Truppen deportiert. Dreieinhalb Jahre leistete sie in der heute ukrainischen Stadt Karlovka Zwangsarbeit in einer Holzfabrik – bis sie sich so schwer an der Hand verletzte, dass sie als „arbeitsuntauglich“ zurück nach Siebenbürgen geschickt wurde. Als sie zurückkehrte, fand sie ihre Familie im Stall vor, wo sie zusammengepfercht zwischen ihren Tieren unter unwürdigen Zuständen lebten. Im Haus war währenddessen eine Romafamilie eingezogen.

In Annas Abwesenheit hatte man das Haus sowie die gesamten Grundstücke der Familie enteignet – auch die Weinberge außerhalb des Dorfes, zu denen Anna häufig mit ihrem Pferd geritten war. Gemeinsam schafften es alle irgendwie diese schwere Zeit zu überstehen und einige Jahre später bekam die Familie auch ihr Eigentum rückerstattet. Doch meine Urgroßeltern, Margareta und Georg Zakel, konnten sich nicht lange daran erfreuen. Im Winter 1954 starben beide im Abstand von zwei Tagen hintereinander.

Annas Geschwister hatten in der Zwischenzeit alle eigene Familien gegründet und waren entweder in größere Städte oder ins Ausland gezogen. Wie die zahlreichen Briefe bezeugen, war ihr der Kontakt zu ihren Geschwistern sehr wichtig. Vor allem zu ihren beiden Brüdern, die bereits in jungen Jahren das Dorf verlassen hatten. Mein Großvater Martin (genannt Marts) lebte viele Jahre in Bukarest und ließ sich nach seiner Rückkehr aus dem sowjetischen Arbeitslager in Hermannstadt nieder und Michael (genannt Misch) gründete in Österreich eine Familie. Wie wichtig ihr diese beiden Brüder waren, sieht man noch heute – ihre Porträts hängen seit vielen Jahrzehnten in der Guten Stube.

 

Anna, die sich nach dem Tod der Eltern dazu entschied auf dem Dorf zu bleiben, bewirtschaftete den Acker, mit dem weiten Blick auf das Kokeltal, fortan allein und mit der Unverwüstlichkeit einer „echten Sächsin“. Sie genoss ihr Leben und war in vielen Bereichen des sozialen Lebens sehr aktiv. Durch ihre offene, kommunikative und lustige Art war sie bei allen Dorfmitgliedern sehr beliebt – ob als Nachbarin und Freundin oder als jahrelange Kuratorin der Kirche. Durch ihre Begabung für das Nähen wurde sie im Dorf bald die Schneiderin des Vertrauens, bei der man die Tracht ausbessern oder die Kleidung maßschneidern ließ, aber auch gern gesellige Stunden neben der Nähmaschine verbrachte.

Nachdem sie Anfang der 90er-Jahre allen auswanderungswilligen Nachbarn die Garderobe erneuerte, damit diese mit der Mode in Deutschland mithalten konnten, war es mit der Geselligkeit jedoch vorbei. Traurig verfolgte sie, wie sich ein Haus nach dem nächsten im Dorf leerte, wie die Gemeinschaft, die jahrzehntelang ihre Familie und ihr Rückhalt geworden waren, in wenigen Wochen zusammenbrach. Bis sie selbst den Entschluss fasste auszuwandern. Aus Angst, alleine und ohne soziale Kontakte im Dorf zurückzubleiben, verließ sie im Alter von 78 Jahren Siebenbürgen. Sie packte ihre Koffer und wanderte nach Deutschland aus. Doch so sehr sich meine Großtante, die auch der beschwerlichen Arbeit langsam müde wurde, ein einfacheres Leben in Deutschland wünschte, so schnell holte sie dort die Realität ein. Das Kapitel „Auswanderung“ endete für sie nach nur fünf Monaten, da man ihr eingeredet hatte, sie könne mit der spärlichen rumänischen Rente in Deutschland nicht auskommen. Enttäuscht von dieser Erfahrung, aber nicht gewillt, auf das Wohlwollen anderer angewiesen zu sein, wählte sie die Rückkehr nach Siebenbürgen in ihr bescheidenes, aber selbstbestimmtes Leben.

  

 

Das nächste Jahrzehnt verbrachte sie mit der Bewirtschaftung von Haus und Hof, stellte Wein und Schnaps her, engagierte sich weiter stark in der Kirche, arbeitete an ihrer Nähmaschine, las Bücher, hieß Sommer um Sommer die Verwandtschaft aus dem Ausland willkommen und hüpfte glücklich in ihrem Garten umher – bis sie ihre Kräfte verließen.

Als das Leben alleine ihr zu viel abverlangte, verließ sie das Dorf. Ihre letzten sechs Lebensjahre verbrachte sie bei ihrer Nichte Margarete in Deva, zu der sie schon immer ein sehr inniges Verhältnis hatte. Dank Margaretes aufopferungsvoller Pflege fühlte sich meine Großtante gegen Ende ihres Lebens behütet, umsorgt und geliebt.

Am 12. August 2014 kehrte sie schließlich für immer in ihr „Appesstref“ zurück.

Von dem hoch über dem Dorf liegenden Friedhof, direkt neben der alten Wehrkirche, wacht diese bemerkenswerte Frau nun darüber, dass ihr geliebtes Elternhaus so bestehen bleibt, wie es ursprünglich war.

Und genau das macht den Charme dieses alten Hauses, das von nun an ihren Namen tragen soll, aus – Ursprünglichkeit.